Neues Leben in alten Mauern

Das alte Kesselhaus ist bereits rund 140 Jahre alt.
Foto: asf

Wo früher die berühmten Schildkröt-Puppen hergestellt wurden, hat sich heute eine ganz besondere Eventlocation etabliert: In der Alten Schildkrötfabrik trifft Tradition auf Moderne.

Von Ulla Cramer

Von Mannheim aus eroberten sie Kinderherzen weltweit: Bärbel, Erika, Inge oder Hans hießen die beliebten Puppen mit einem Schildkröt-Zeichen im Nacken. Sie zählten zu den Verkaufsschlagern der Rheinischen Gummi- und Celluloid-Fabrik in Mannheim-Neckarau – besser bekannt als Schildkrötfabrik. 1873 von den Brüdern Victor und Alfred Lenel zusammen mit Friedrich Bensinger gegründet, zählte sie zu ihrer besten Zeit im Jahr 1914 rund 6.000 Beschäftigte und war die größte Celluloid-Fabrik der Welt. In rund 200 Gebäuden wurde auf einem Areal von über 80.000 Quadratmetern produziert.

Doch die Erfolgsgeschichte kam 1975 zu einem Ende. Die Puppenproduktion in Mannheim wurde aufgegeben.1988 kaufte die Stadt Mannheim das Gelände und ließ die Gebäude weitgehend abreißen. Übrig blieben das rund 140 Jahre alte Kesselhaus und das Maschinenhaus aus den 1960er-Jahren, die 1998 der Chefarzt der Heidelberger Kopfklinik, Prof. Joachim Mühling, erwarb, dort seine Wohnung einrichtete und eine Heimat für seine umfängliche Kunstsammlung fand. Seine Pläne, vor Ort ein Museum der Gegenwartskunst zu eröffnen und dort vor allem Werke von Anselm Kiefer zu präsentieren, konnte der 2009 verstorbene Mediziner jedoch nicht mehr realisieren. Eine Episode blieb auch das Edelrestaurant „Amesa“, das 2009 von dem Avantgarde-Koch Juan Amador eröffnet wurde, der das Projekt jedoch schon 2015 wieder aufgab. Und so konnte ein neues Kapitel in der Geschichte der Alten Schildkrötfabrik aufgeschlagen werden.

Das Führungsteam der Alten Schildkrötfabrik: (v.l.) Daniel Lauff, Petar Penchev und Simeon Makedonski
Foto: Thomas Tröster

„2017 stieß ich im Internet auf dieses Objekt“, berichtet Petar Penchev. Eigentlich war der gebürtige Bulgare, der seit 2004 in Deutschland und seit 2006 erst in Heidelberg und dann in Mannheim lebt, auf der Suche nach einer Gewerbefläche für die Aufbereitung von Automobilen. „Doch als ich mit meiner Frau Mariela Angelova den ersten Blick auf die beiden Gebäude in der Floßwörthstraße warf, habe ich mich sofort verliebt. Und mir war klar, aus diesem Areal muss eine Eventlocation werden.“

Eine ausführliche Marktanalyse ergab, dass für entsprechende Flächen in der Quadratestadt durchaus Bedarf bestand, und 2018 unterschrieb man den Kaufvertrag. Der Unternehmer verkaufte seine Personaldienstleistungsfirma, begeisterte seine Familienangehörigen, sich bei diesem ehrgeizigen Projekt finanziell zu engagieren, und steckte jeden Cent, den er zur Verfügung hatte, in den Umbau des Objekts. Rund 7.500 Quadratmeter Grundfläche, von denen 5.000 Quadratmeter bebaut sind, kann er bespielen. Allein das historische 140 Jahre alte Kesselhaus mit 15 Meter hohen Decken verfügt über eine Fläche von 630 Quadratmetern in der Haupthalle und rund 200 Quadratmetern in der Nebenhalle.

Vom 1. April 2023 bis Mitte 2024 nutzte die Oper des Nationaltheaters den traditionsreichen Standort während der Renovierung des Nationaltheaters als Ausweichquartier, als der Bauherr der vorgesehenen Ersatzspielstätte „Oper am Luisenpark“ (OPAL) in Insolvenz ging und dieser Bau nicht rechtzeitig fertig wurde. Das durch einen großen Garten getrennte gegenüberliegende Maschinenhaus beherbergt die Anselm Kiefer-Halle und die Horst Hamann-Halle, in der Fotos des international bekannten Mannheimer Fotografen gezeigt werden.

„Kunst ist uns sehr wichtig“, so Penchev. In dem Ensemble gibt es bereits Kunstinstallationen von Sir Richard Long und dem 2021 verstorbenen Christian Boltanski. „Wir wollen jedoch auch regionalen Künstlern und Nachwuchskünstlern eine Plattform bieten und freuen uns sehr über die Zusammenarbeit mit Horst Hamann.“

Das operative Geschäft wird von Petar Penchev und seiner Frau selbst geleitet. Ein großer Teil der Terminplanung und der Ablauforganisation liegt in den Händen von Daniel Lauff, der als gelernter Koch auch für die kulinarische Betreuung zuständig ist. „Unser Start 2019 mitten in der Corona-Phase bot natürlich nicht gerade die besten Voraussetzungen“, erinnert er sich. „Doch dies hatte auch Vorteile. So haben wir uns auf die damals gegebenen Realitäten eingestellt, was uns auch jetzt nutzt, z. B. können wir Streamingprojekte umsetzen. Ein Highlight in dieser Zeit war natürlich auch Helene Fischer, die in unseren Räumlichkeiten 18 Videos gedreht hat und eine Dokumentation über ihr Leben.“ Das Kanzlergespräch, bei dem sich Olaf Scholz Ende 2023 den Fragen der Mannheimer Bürgerinnen und Bürger stellte, fand ebenfalls in der Alten Schildkrötfabrik statt.  Ein jährlicher Höhepunkt ist das Lions Art Festival. Hier wird das traditionsreiche Industriegelände fünf Tage lang eine Bühne für Bildende Kunst, Poetry Slam, Indie-Pop und Tanz.

Petar Penchev, der in Heidelberg Politikwissenschaft studiert hat, und sein Team brennen für dieses Projekt. „Für mich, meine Frau und meine drei kleinen Söhne ist dies unsere Lebensleistung, für die wir gemeinsam einstehen“, berichtet der 40-Jährige.

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